Eine Kuh blickt mich an.

Haben Sie einmal einer Kuh in die Augen geschaut? Nicht einfach angeschaut, nicht einfach so beim vorübergehen. Ich meine richtig in die Augen geschaut. So richtig in die Augen, genaus wo sie einem Menschen in die Augen schauen. Können wir überhaupt einer Kuh in die Augen schauen, als ob es ein Mensch wäre? Mein Gefühl sagt mir Ja und Nein zugleich.

Was sehen wir, wenn wir einer Kuh in die Augen schauen? Ich sehe zwei Augen, die unseren Ähnlich sind. Sie sehen uns ohne Zweifel an, und zwar genauso wie wir sie anschauen: und zwar mitten in die Augen. Sie erkennen uns, wir erkennen Sie. Aber dann sehen wir auch, dass die Augen nicht die eines Menschen sind. Sie unterscheiden sich, etwa in der Grösse. Die Physionomie ist zweifelsohne ähnlich, aber doch mit klaren Unterschieden. Physionomische Unterschiede gibt es natürlich auch innerhalb der Menschen, sie sind aber viel geringer. Rechtfertig dies, dass wir diese Kuh als etwas völlig anderes als wir Menschen verstehen? Rechtfertigt dies, dass wir uns Menschen nennen und alle diese anderen Lebewesen als Tiere, klar getrennt von uns, als ob all diese Tiere etwas ganz anderes sind als wir Menschen. Diese Trennung, man könnte auch sagen Abhebung des Menschen von den Tieren, hat eine lange Tradition. Derrida hat sich am Schluss seines Lebens intensiv dieser Frage gewidmet (v.a. L’animal que donc je suis. / Das Tier, das ich also bin.). Unsere Beziehung zu den Tieren ist tatsächlich sehr schwierig zu verstehen. Auf die Problematik und Unhaltbarkeit dieser Grenzziehung zwischen Mensch und Tier hat Derrida verdientermassen hingewiesen: also auf eine singuläre Grenze, die klar definiert scheint, und nur zwei Gebiete kennt: Mensch oder Tier. Sie macht uns auch Probleme, wenn wir  Tieren begegnen, weil wir keine Facetten kennen. Höchste Zeit dies zu ändern.

Die Kuh schaut wieder weg. Kopf ins Gras, welches scheinbar interessanter ist. „Interessant“ ist natürlich ein Menschenwort. Ob die Kuh einen solchen Begriff hat, oder einen Ähnlichen, können wir nicht wissen. Auf jeden Fall aber sieht sie sehr wohl, dass die unsrigen Augen keine Kuhaugen sind. Sie verwechselt uns nicht mit Artgenossen. Und sie hat uns zweifelsohne in die Augen geschaut. Sie hat uns nicht wie ein Busch oder Baum angeschaut. Sie weiss, dass wir Augen haben. Sie scheint die Augen als Augen verstanden zu haben. In diesem Punkt, so scheint es zumindest, sind wir, Kuh und Mensch, einig: Wir sehen Augen, aber solche einer anderen Spezies, oder so.

Sie frisst ihr Gras (und was sie sonst noch macht) und ich gehe, gedankenverloren weiter. Denkt auch sie noch an die Augen? Wir müssen anerkennen, dass so ein tiefer Blick einer Kuh überraschen kann. Erkennt Sie, dass wir ein Subjekt sind, ähnlich wie Sie ein Subjekt ist? (Vorausgesetzt wir sind natürlich ein Subjekt… ich meine damit eine Person, eine mehr oder weniger autonom verhaltende Entität, aber um das geht es hier nicht, oder doch?)

Warum bin war ich so überrascht von diesen Augen, warum sind wir überrascht? Dürften uns Kuhaugen nicht so berühren. Wieso trauen wir ein so persönlichen Moment den Kühen nicht zu? Machen diese Augen unser Verständnis von Tieren fragwürdig. Verwirren Sie unsere Überzeugung darüber, was ein Tier ist. Müssen wir unsere „Tierbild“ revidieren?

Wurden Sie, lieber Leser, schon einmal vom Blick  einer Kuh überrascht. Ich meine nicht der Kuh auf dem Photo. Einer echten Kuh, einer Kuh die auf einer Wiese steht, oder im Stall. Falls Sie das noch nie getan haben: holen Sie es nach! Und warum sind wir nur überrasch? Was glauben Sie?

 

Die Photographie gibt es übrigens zu kaufen.

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