Ich bin jetzt seit vier Wochen in Manchester und habe mich so gut in die „neue Welt” eingelebt, dass mir Vieles gar nicht mehr auffällt. Gut, habe ich die grössten «flabbergasted moments» bei meiner Ankunft notiert:
Rote Ampeln, na und?
Der Linksverkehr ist nichts Neues für einen Japanreisenden. Aber zusammen mit dem Kollektivzwang bei Rot über den Fussgänger zu gehen, ist das anfangs echt ein Stress! Einfach warten ist keine Alternative: Die Rotphasen dauern stupid lange, niemand sonst kümmert es, ob die Ampel beim Fussgänger Rot oder Grün zeigt. Als ich einmal so auf das grüne Menschchen wartete, legte ein „Chap“ den Arm auf meine Schulter: „It alright mate!“ Selbst wenn Autos oder Busse vor dem Fussgänger stehen oder sich sogar nähern, geht man bei Rot. Autos bremsen und entschuldigen sich sogar bei Fussgängern welche bei Rot gegangen sind! Würde man das in der Schweiz tun, hätte man am nächsten Tag noch Ohrensausen, vom Gehupe des Autos, welches voller Panik auf die Bremsen getreten hätte.
Tägliches Pendeln?
Der öffentliche Verkehr ist miserabel: die Züge fahren zwar immerhin (fast) stündlich bis rund 23.30. Aber: es gibt keinen Nachtfahrplan, zu später Stunde muss manchal mehr als eine Stunde warten. Die Dieselzüge stinken, sind hoffnungslos veraltet, stets verschmutzt, häufig verspätet oder fallen gelegentlich einfach aus. In der Rushhour stauen sich die Autos in der Stadt, sodass auch die öffentlichen Busse nicht mehr durchkommen und auf der Strasse stehen (und diese Staus beschränken sich nicht einfach auf ein paar Nadelöre). Und trotzdem: Man sieht kaum Fahrradfahrer und es gibt keine Debatte! Wie pendelt man in dieser Stadt? Haben sich die Ökonomen noch nie die verlorene Zeit zusammengerechnet, welche den Pendlern täglich durch die Finger gleitet? Ich dachte das Credo „Time‘s money“ sei typisch Englisch. Wenn man beim Warten am Bahnhof wenigstens ein Tässchen Tee trinken könnte! Ganz toll hingegen ist das Klavier, das am Bahnhof «Oxford Road» steht, so kann wenigstens die Zeit beim Warten mit Klimpern verkürzt werden, auch wenn die Betrunkenen am Freitag Abend ihre Fähigkeiten bisschen überschätzen…
got some change?
Es sind auffällig viele Obdachlosen an prominenten Stellen zu sehen, welche mich an die Geschichte der Moll Flanders erinnern – nein nicht den über-guten Christen aus den Simpsons, sondern den packenden Roman von Daniel Defoe der die Lebensgeschichte einer Frau schildert, die von der Gesellschaft und Behörden im Stich gelassen wird und auf der Strasse „Karriere» macht.
Die Obdachlosen sind erschreckend jung und zahlreich, aber recht freundlich. Bedrückend ist das Ganze aber allemals, auch nach 2-3 Bierchen noch…
Dichtestress?
Die Leute stehen und bewegen sich viel dichter, und doch scheinen sie nicht unter Dichtestress zu leiden. Nein, die Menschen hier sind „relaxed“. Die Gebäude haben Riesenfenster und doch kaum Vorhänge. Wen kümmerts, wenn der Nachbar ins Haus schaut? Die Leute in der Schweiz sind übersensibel und haben definitiv ein anderes Verständnis von Privatsphäre. Aus britischer Perspektive muss die genervte Diskussion in der Schweiz wie Hysterie ausschauen.
Segregation!
Muslima hängen mit Muslima ab, Schwarze mit Schwarzen, weisse Kravattenträger mit weissen Kravattenträgern, Posh Girls mit Posh Girls, Chinesen mit Chinesen, Blue Collars mit Blue Collars und Grammar School Kids mit Grammar School Kids. Mir scheint, dass die Segregation tief in der britischen Kultur verankert ist. Man gehört zu einer Gruppe und zeigt dies: Mit schicker Kleidung, mit einem Kopftuch (man trägt häufiger Kopftuch als in der Schweiz) oder gar mit einem Niqab, mit der Schuluniform der jeweiligen Schule. Mit der Kleidung zeigt man, dass man zu einer bestimmten Klasse oder Gruppe gehört. Die Zugehörigkeit ist hier viel sichtbarer als in der Schweiz.
Hallo Simon,
vielen Dank für deine Stadtführung. Ich habe die Zeit in Manchester sehr genossen.
Zu diesem Blogeintrag schreibe ich gerne meinen Gesichtspunkt:
Zu dem ÖV denke ich schon, am Abend oder am Wochenende sehr unpraktisch ist. In Zürich die Zugverbindung immer dichter. Es ist schon praktisch und ich profitiere davon. Es nimmt mich echt wunder, die Züge trotzdem sehr pünktlich fahren. Es wird bald auch in der Schweiz «24h-Convenience Store» geben. Ich mache mir Sorgen, dass hier in der Schweiz bald wie in Japan wird. Was ein wenig erfreulich ist, dass neuerdings in Japan einige selbstkritische Meinungen zu diesem Convenience gibt:)
Zu der Segregation: Ausserlich gleich erscheinen heisst nicht, dass man integriert ist. Auch wenn man alle nackt ist, sieht man immer noch viele Unterschiede. Was ich meine: Kopftuch- oder Burkaverbot von aussen bringt nicht viel. Ich bin schon nicht dafür aus menschenrechtlicher Aspekt, aber diese Strömung soll von innen kommen. Sonst ändert es sich nicht wirklich. Und warum sollte man dies verbieten, wenn jemand aus eigene Überzeugung diese trägt? Viele vergessen, dass Christinnen früher auch Kopftuch getragen haben (,oder immer noch wenige?) Sehr interessant, ich hab dieses Thema vor kurzem auch mit Kollegen gesprochen.
Danke für deinen Beitrag!
Bezüglich Burka-Verbot habe ich hier in England auch integrierte Muslime gehört, die ein Verbot begrüssen würden, weil eine Burka/Niqab in erster Linie eben nicht ein religioses Symbol ist (nicht nur), sondern eines des radikalen Islam, und damit gewissermassen eine extreme «politische» Position. Ein Kopftuch selbst finde ich unproblematisch.
Ich finde die Begegnung von Frauen mit Burkas im öffentlichen Raum eine recht unangenehme Erfahrung. Ich spreche recht gerne mit Leuten im öffentlichen Raumm aber eine Burkaträgering kann man eigentlich nicht ansprechen! Diese Frauen sind regelrecht «weggesperrt», und das ist ja genau was diese extreme religiöse Gruppierung möchte. Eine Unterhaltung/Gespräch kann meiner Meinung nach nur auf Augenhöhe funktionieren, wenn man das Gegenüber anschauen kann. Diese Frauen bewegen sich gesichtlos in der Gesellschaft.
lieber Gruss aus Manchester!