Als ich langsam Erwachsen wurde, hatte ich es mir abgewöhnt, Bettlern Geld zu geben. Denn Obdachlose in der Schweiz seien generell gut versorgt, man solle kein Geld geben, da dies zwar kurzfristig helfe, aber langfristig die Obdachlosen abhängig mache und damit ihre Situation nicht nachhaltig verbessere. Das leuchtete mir damals ein. Nicht so letztes Jahr in Manchester.
Manchster, das heisst in Mauern organisierte schwarze, rote und grün schimmrige Backsteine, PET-Flaschen, BigMac-Verpackungen von letzter Nacht oder letzten Monat. Mein Blick geht immer wieder zum Boden. Ich schaue nach Unebenheiten, Löcher und Pfützen – unbewusst, denn ich habe mich schon daran gewöhnt. Anfangs habe ich noch darüber nachgedacht: über die grossen Unterschiede und wie unsere makellose Infrastruktur in der Schweiz als selbstverständlich angesehen wird. Ich komme gerade vom Kino. Und genau da sind noch meine Gedanken. Bei rot über die Kreuzung, auch das hab ich mir angewöhnt. Und dann passierts: ein Obdachloser! Daran habe ich mich nicht gewöhnt. Es sind wohl alles Locals, richtige Mancs. Sie schlafen «rough», haben ihre Schlafsäcke mitten in der Kernzone: vor dem Starbucks, neben dem Mac, im Notausgang des Shoppingcenters. Sie sehen alt und abgelebt aus, oder ganz jung. Ihre Gesichter sagen: «Ich bin gerade in einer Scheisssituation, schau mich an, ich hätt’s auch nicht gedacht, ich war früher auf deiner Seite, aber jetzt bin ich hier.»
Sie sind auch im Winter da, mit ihren nassen Schlafsäcken und Einkaufstaschen. Manchmal betteln sie, manchmal schlafen sie. Oder starren vor sich hin. In Manchester ist die Situation offensichtlich eine andere als in der Schweiz. Obdachlose scheinen wirklich von der Gesellschaft vergessen, vor allem von der Politik. Ich denke an Margaret Thatcher und wie sehr ihre Politik noch nachwirkt. Das Argument aus der Schweiz zählt hier nicht.
Auf einmal habe ich Geld gegeben, begleitet von einem kurzen Talk, oder auch ohne, und dabei habe ich noch etwas ganz anderes erlebt: Das Gegenüber hat die Aktion sehr erfreut – und mich erst recht! Anfangs hat es mich noch Überwindung gekostet. Ich habe mir Gedanken gemacht, ob die Obdachlosen mit dem Geld Alkohol oder Drogen kaufen. Schliesslich aber habe ich verstanden, dass Schenken nur bedeuten kann, dass mich das nichts angeht. Erst dieser Denkschritt machte aus meinen Münzen ein bedingungsloses Geschenk. Er war ein Schlüsselmoment: Dieses bedingungslose Schenken machte mich glücklich, noch glücklicher als das Schenken mit Vorbehalten! Warum nur?
Und ausserdem: Wenn sie sich in ihrer Scheisssituation einen reinpfeifen, wer bin ich, darüber zu urteilen? Bei allem Einfühlungsvermögen: Wie kann ich wissen, was für einen Obdachlosen gut ist? Wäre ich in seiner Situation nicht auch froh über ein Geschenk? Immerhin kenne auch ich den Gedanken, den ganzen Frust ersäufen zu wollen und das Gefühl, wie sehr das die Psyche erleichtert – wenn auch nur kurzfristig. Ob das ein gutes Argument ist?
Ich gab also Geld, und zwar regelmässig, einfach so aus Freude. Aber warum tat ich das eigentlich? Welche Motive, welchen Antrieb hatte ich? Warum machte mir das Schenken Freude? War das nicht doch egoistisch? Mein eigenes Handeln war mir auf einmal suspekt.
Wir alle kennen den Reflex. Wir bekommen etwas gratis, und sind erst mal stutzig: „Wo ist der Haken?» „Was will dasWerbegeschenk von mir?» „Ist das versteckte Werbung» „Die wollen doch nur meine Datem sammeln und vernetzten!» etc.
Die Einteilung in Egoismus und Altruismus ist erklärungsbedürftig. Hier ein Überblick:
zum eigenen Vorteil handeln alias Egoismus
- biologische Bewertung: gesund
- soziale Bewertung: geduldet & getadelt
- Urteil: Verständnis
zum Vorteil anderer handeln alias Altruismus
- biologische Bewertung: verdächtig bis schadend
- soziale Bewertung: erwünscht, propagiert
- Urteil: Misstrauen, besonders wenn keine „edlen Gründe» zugeschrieben werden können
„Tue anderen Gutes» ist Common Sense. Fast jede Religion propagiert es, und kaum eine „Moralschule» kennt nicht die eine oder andere Form davon. Die religiöse Prägung ist von vorgestern, aber trotz allem noch allgegenwärtig: Der Christ muss Gutes tun, und zwar bedingungslos (letztlich natürlich für sein Seelenheil). Aber was ist mit dem Atheist, der ohne Hintergedanken anderen hilft? Besonders für religiöse Menschen ist das höchst suspekt.
Auf der anderen Seite sind all die Handlungslehren. Gemäss Hobbes sind alle Menschen grundsätzlich Egoisten – erst die Institutionen (wie etwa ein Staat) machen uns zu friedlichen und sozialen Wesen, damit wir Andere nicht mit einem Stein erschlagen.
In der Ökonomie haben sich solche Gedanken für lange Zeit in die Grundtheorien eingeschrieben, etwa in der Form des „Homo Oeconomicus»: Jeder Marktteilnehmer handelt rational und stets zu seinen Gunsten. Erst seit neuerem kratzen Mikroökonomen wie Ernst Fehr an diesen Grundkonzeptionen der Wirtschaftslehren – interessanterweise mit empirischen Experimenten. Die Theorie muss darauf erst noch antworten.
Auch die Biologie hatte lange ihre Mühe, altruistisches Verhalten zu erklären: Wie kann der Altruismus dem Einzelnen einen Selektionsvorteil bringen? Und wäre er dann überhaupt noch altruistisch? Biologisch gesehen wäre jedes altruistische Verhalten letztendlich entweder egoistisch oder würde die biologische Fitness schwächen. Dies passt leider gar nicht zu unseren Wertvorstellungen.
Fortsetzung folgt …