Wie gut kennen Sie Ihre Urgrosseltern? Wäre ich damals nicht nochmals in den kalten Keller gegangen und hätte ich nicht in den Abfallsäcken gewühlt, als das Haus meines Grossvaters verkauft wurde, hätte ich ihn nie kennengelernt. Ein Bündel uralter Fotos fielen mir in die Hände. Auf einem entdeckte ich meinen Urgrossvater, der mich anstarrte. Kann man jemanden durch ein Foto kennenlernen?
Auf der Rückseite steht mit Kugelschreiber:
Gesamtschule Habschwanden, 1897
Und dann mit Bleistift, wohl zu einem späteren Zeitpunkt:
Peter Bieri Jeh… [unleserlich, Jenni], 1. Jahr als Lehrer.
Mein Urgrossvater war also auch schon Lehrer. Er sieht sehr jung aus, trägt einen buschigen Schnauz, einen gutsitzenden Anzug, ein weisses Hemd, eine Kravatte, ein Veston, ein Buch in der rechten Hand und eine Kette, die wahrscheinlich zu einer Taschenuhr führt. Er erinnert mich sehr an meinen Vater, und an meinen älteren Bruder.
Was genau sehen wir eigentlich auf dem Foto? Wie viel erzählt es uns von der damaligen Wirklichkeit und was dürfen wir «hinein» lesen?
Hier das ganze Foto:
Er steht aufrecht, stolz, der Blick leicht nach «herab», schaut etwas grimmig in die Kamera, wie auch die meisten Kinder. Ist das nicht Wahnsinn? Kein einziges Kind lacht!
Sehen Sie sich diese Gesichter genau an! Was verraten uns ihre Mimik? Skepsis, Unmut, Sorge, Angst?
Diese drei Jungs scheinen mir noch am «fröhlichsten», vielleicht waren sie neugierig. Man muss wissen, dass zur Zeit meines Urgrossvaters die Belichtungszeiten eines Fotos bis zu mehreren Sekunden betrugen.
Darum sind auf Fotos dieser Zeit häufig Details verschwommen. Aber ist das ein Grund für solche Mienen? Ich stell mir vor, wie der Fotograf aus der Stadt kam, seine «neuartige» Apparatur mit dem schweren Stativ aufbaute, sich wichtig machte, vielleicht sogar rumschimpfte, die Kinder mögen mal ruhig sitzen. Sicherlich war es eine «ernste» Angelegenheit und kein Grund zu Lachen. Könnte es nicht sogar sein, dass wir heute allgemein mehr Lachen als vor hundert Jahren? Wie könnte man das überhaupt seriös untersuchen?
Wenn der Techniker eine «Lichtbildaufnahme» anfertigt
1897 war vor der ersten Kommerzialisierungswelle der Fotografie. Erst ab den 1920er und 30er Jahre konnten «Endverbraucher» Kameras kaufen und Fotos entwickeln lassen – umständlich, kompliziert und teuer. Zuvor war das Verfahren noch den Profis vorenthalten: fortschrittgläubige Künstler, Kartographen und Soziologen operierten mit diesen Apparaten, entweder als Porträtisten berühmter und reicher Leute oder zur Dokumentation in quasi wissenschaftlichen Aufträgen. Anders als die Malerei wurden die Bilder nicht als Kunst, sondern als eine objektive Abschrift der Natur, eine Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, als Abdruck des Lichtes (Griechisch Photós graphein = Licht-Schrift) verstanden. Auf Englisch sprach man von «Pencil of Nature». Fotos fixierten die Realität auf eine Fläche, zur Aufbewahrung und Untersuchung.
Man erhoffte sich viel vom systematischen Fotografieren von Phänomenen. So erhoffte sich beispielsweise die Wissenschaft aus der Katalogisierung psychisch Kranker Erkenntnisse über die Krankheit selbst. Von der Ablichtung von Straftäter dachte man das kriminelle «Naturell» zu ergründen. Der wissenschaftliche Nutzen für den intendierten Zweck blieb äusserst bescheiden. Vielmehr mauserte sich die Fotografie zum Herrschaftsinstrument, etwa im Dienste der Überwachung, und fixierte den Diskurs des «Normalen», stigmatisierte das «Abnormale» und begünstigte unter wissenschaftlichen Vorwand die behördliche Willkür (Tagg 1988, Bates 2009, Foucault). Kurz: Fotografie war negativ besetzt. Ihr schlug die ganze Skepsis gegenüber Obrigkeiten und drohender Unterdrückung entgegen.
Wie das Lachen in unsere Fotos kam
Wenn das Foto noch nicht zur Selbstdarstellung verstanden wurde, warum sollten Menschen auf Fotos fröhlich sein und lachen? Warum lachen Sie eigentlich auf jedem Foto? Könnten Sie damit aufhören?
Die Veränderung der fotografischen Praxis verschob auch den Inhalt und die Bedeutung des Fotografischen. Was heute als die natürlichste Sache der Welt gilt, sagt wohl genauso etwas über unsere Zeit wie über die «alten Tage». Denn: Das Lachen kam erst mit den ersten Werbekampagne von Kodak in die Fotos. Vorher kam schlicht niemand auf die Idee, dass wir «besser» ausschauen, wenn wir lachen. Erst als «Wir» andere Menschen in der Werbung lachen sahen, und uns bewusst wurde, dass wir das sein könnten, begannen wir zu verstehen, wie wir uns selbst darstellen und uns nur von der «besten Seite» zeigen können. Uns wurde bewusst, dass wir neben der «echten» alltäglichen Identität ein öffentliches Bild schaffen können, eine virtuelle Identität. Wir Menschen haben angefangen auf den Fotos zu lachen, weil wir es den Werbebildern nachmachten, weil lachen auf Fotos attraktiv macht. Und weil wir wissen, dass wir und andere später diese Fotos anschauen und «ein Bild» von uns machen, wollen wir selber auch attraktiv sein, und lachen.
Was «sagt» ein Bild aus?
Wir denken, wir verstehen Foto intuitiv. Warum eigentlich? Vielleicht weil wir (meistens) sofort erkennen, was es darstellt. Und weil wir der Illusion unterliegen, dass wir auf ein Foto schauen, wie wir auf die Wirklichkeit schauen.
Wir gehen davon aus, dass das Foto unbestechlich die Realität zeigt, dass es eine direkte Lichtspur in die Vergangenheit gibt. Sofern nichts manipuliert wurde, und davon gehe ich aus, sind diese Kinder auf dem Bild meines Urgrossvaters genau so dagesessen, wie sie jetzt dasitzen. Sie hatten genau diese Schuhe, diese Kleider, und diese Blicke. Nur: Das «Genau so ist es gewesen!» täuscht. Wir sehen auf dem Bild nur die Oberfläche. Unsere Wahrnehmung ist vorbelastet durch unsere Sehgewohnheiten, die seit Geburt durch unser Umfeld geprägt wird. Wir denken, wir sehen ein «Klassenfoto», das wir aus eigener Schulzeit kennen. In Wahrheit sehen wir aber etwas anderes, ein «Klassenlichtbild» aus einer anderen Zeit.
Wenn wir ehrlich sind, wissen wir kaum etwas über das Bild, und trotzdem können wir natürlich aus Bildern lernen. Der Informationsgewinn aus einem Foto hängt von verschiedenen Faktoren ab, die ich hier versuche zu gruppieren:
1. Vom der Qualität des Oberflächlichen:
(a) Bildausschnitt und Perspektive: Jede*r Fotograf*in muss wählen was ins Bild rein kommt und was ist für immer draussen bleibt? Welche Details sind wie genau erkennbar? Welche Strukturen verstehen wir, und wie «fühlen» sich die Oberflächen an? Gibt es Verzerrung, und wie wirken die auf uns? Wird mit Perspektiven gespielt?
(b) Aufnahmequalität: welche Details werden durch Schärfe, Farbgebung, Helligkeit und Kontrast gezeigt und welche sind verschwommen, verwaschen, verpixelt, verloren im Dunkeln oder im Licht «ersoffen»?
2. Von der Vertrautheit des Gezeigten:
Wie bekannt ist uns das Gezeigte? Was erkennen wir «aus unserem Leben», und wie verknüpfen wir unser Wissen auf das Foto? Welche Zugänge eröffnen sich, welche Emotionen löst es in uns aus?
3. Vom Fotowissen:
Was wissen wir über die Hintergründe des Fotos? Welche Abbildungsregeln gibt/gab es? Ist es Teil einer fotografischen Tradition oder eines Genres: Portrait, Werbefotografie, Selfie oder ein Meme? Wie können wir uns darauf einlassen, andere Sehgewohnheiten «simulieren» und in unsere Zeit «übersetzen»? (ikonographisches Wissen, historisches Wissen, geografisches Wissen, sozio-kulturelle Praxis etc.)
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Fotos nie «einfach verstanden» werden, auch wenn es sich so anfühlt: Alles, was wir aus einem Foto verstehen, haben wir interpretiert, und es kann sich immer als falsch entpuppen.
Mein Urgrossvater, ein Lehrer wie ich?
In der Lehrerbildung erzählt man gerne, wie wenig sich der Lehrerberuf eigentlich geändert habe. Bei solchen Behauptungen frage ich mich immer, was man damit sagen möchte. Müsste man sich nicht eher fragen, was denn überhaupt noch gleich sei? Können wir überhaupt verstehen, was es vor gut hundert Jahren bedeutete, Lehrer zu sein? Hätte ich als Legastheniker überhaupt Lehrer werden können? Hat ihnen mein Urgrossvater bei Fehlern mit dem Stock auf die Finger geschlagen?
Bei den Jungs sieht man an den Kleidern gut, dass sie aus unterschiedlich situierten Familien kommen: Einige tragen schicke Anzüge, mit Krawatte, andere tragen einen einfachen Umhang. Wie unterschiedlich wurden sie behandelt und wie waren ihre Beziehung auf dem Pausenplatz? Wie haben sich wohl diese Kleider angefühlt? Waren sie schwer, kratzten sie? Wie häufig wurde gewaschen? Stanken sie?